Prof. Dr. Rainer Dollase
Neulich, im saarländischen Landtag – Anhörung zu G8/G9: natürlich wird man als Sachverständiger freundlich empfangen, natürlich darf man ausreden, natürlich werden Meinungen respektiert – man ist schließlich unter Demokraten. Und die Frage G8 oder G9 spaltet ja bundesweit sämtliche Parteien, also gibt es in jeder Partei Parteifreunde, die für G8 und andere, die für G9 sind.
Nun gut – wir werden damit leben können, Demokraten tragen demokratisch gefasste Beschlüsse, selbstverständlich. Nur - wie sich die G8/G9 Frage auch entwickeln wird – man wird niemanden zwingen können, mehrheitlich beschlossenen Unsinn im Nachhinein als Sinn zu bezeichnen. Das müssen sich nun alle G8-Befürworter final und permanent vorhalten lassen: sie haben beschlossen, das Niveau bundesdeutscher Abiturleistungen zu senken. Denn eine unumstößliche praktische, wissenschaftliche und theoretische Evidenz kann man so wenig demokratisch aushebeln wie die Tatsache, dass 2 plus 2 vier ist: ein Jahr mehr Schule bis zum Abi macht ein Jahr persönliche Entwicklung und Bildung mehr.
An zwei Beispielen kann man den Abschied von der Vernunft besonders gut darstellen.
Erstes Beispiel: G8-Befürworter im Saarland und in anderen Ländern, in denen man G9 für Gesamtschulen erlaubt, berichten immer stolz davon, dass die G8-Abiturienten genauso gut wie die G9-Abiturienten seien. Daraus kann man nur unvorteilhafte Schlüsse ziehen: die G9-Abiturienten sind dümmer, weil sie ein Jahr länger brauchen. Oder: ihre Schule ist so schlecht, dass man dort ein Jahr länger (quasi mit einmal Sitzenbleiben) zum Abi braucht. Oder: Wenn kein Unterschied besteht, wird die Abi-Prüfung offenbar auf G7-Niveau oder darunter angesetzt, also leichter, damit kein Unterschied zwischen G8 und G9 besteht. Oder: Es wird überhaupt keine höhere schulische Allgemeinbildung geprüft, sondern etwas, was man auch in jüngeren Lebensjahren schon hätte prüfen könnte, z. B. allgemeine Intelligenz. Oder: Um eine vernünftige Prüfung zum Vergleich von G8 und G9 zu machen, müsste man G8-Abiturienten in dem Stoff prüfen, den nur G9-Gymnasiasten im letzten Schuljahr gehabt haben (ich muss lachen).Oder: Man müsste G8-Abiturienten noch ein weiteres Jahr zum Gymnasium schicken und dann testen, was sie in dem Jahr zusätzlich gelernt hätten (bitte lachen!). Mir würden noch ein paar weitere Studien einfallen, um die G8-Entscheidung ad absurdum zu führen. Merke: Ein Jahr Gymnasium mehr bringt ein Jahr Qualität mehr. So auch der Tenor meiner Stellungnahme. Wer sich über unabweisbare Evidenzen hinwegsetzt, gerät in Gefahr, unverantwortlich zu handeln.
Zweites Beispiel: Im Saarland und in NRW ist man stolz darauf, dass man jedem, der sein Abi gerne nach 9 Jahren machen möchte süffisant zuflüstern kann: „Dann geh doch auf eine Gesamtschule!“. Damit möchte man bauernschlau ein wenig mehr Zulauf für die aus ideologischen Gründen favorisierte, angeblich gerechtere, Einheitsschule erreichen. (Was übrigens empirisch nicht stimmt: Gesamtschulen erreichen nicht mehr an Bildungsgerechtigkeit als gegliederte Systeme.) Damit schafft man neue Ungerechtigkeiten und ein Zwei-Klassen-Abitur (eins für Dumme und eins für Schlaue, siehe erstes Beispiel), man verzerrt den Wettbewerb zwischen den Schulformen und wird sich in ein paar Jahren wieder mit der leidigen Strukturfrage auseinandersetzen müssen.
Weitere Beispiele für den demokratisch-mehrheitlich gefeierten Abschied von der Vernunft sind leicht zu finden: alle sagen „Wir haben das schon seit vielen Jahren und sind gut gefahren damit.“ (Bitte lachen!). Fakt ist: die Akademikerarbeitslosigkeit ist höher als verlautbart (rund 20 % der Akademiker entziehen sich dem Arbeitsmarkt, müssen also zur Akademikerarbeitslosigkeit von rund 6 % bis 9 % addiert werden, rund 20 % bis 30 % brechen ihr Studium ab und kosten den Steuerzahler eine Menge Geld, immer weniger fühlen sich zum Studium mathematisch-naturwissenschaftlicher Studiengänge befähigt etc.) Gegen derlei Miseren qua Bildung und Bildungssystem anzukämpfen, hätte ein differenziertes Bildungssystem geholfen (wie übrigens auch für die Bildung der Flüchtlingskinder) und natürlich auch ein G9-Gymnasium. Es geht um mehr Qualität – um nichts anderes.
Oktober 2015